CAIRN.INFO : Matières à réflexion

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Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben. Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muss, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie. [1]

2Der Satz ist durch die Welt gegangen und hat den Diskurs der deutschen Arbeiterbewegung über Jahrzehnte doppelt determiniert : einerseits im Sinne einer Rhetorik des Internationalismus, andererseits im Sinne einer zwangsläufig defensiven Haltung, die nicht zuletzt durch den in den Sozialistengesetzen formulierten Vorwurf der « vaterlandslosen Gesellen » verstärkt wurde : in Fragen der Außenpolitik mussten sich Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie immer wieder rechtfertigen, ihre Kompetenz, Legitimität und Loyalität erst noch beweisen. Zugespitzt formuliert ist die deutsche Arbeiterklasse erst 1913 durch die Zustimmung der SPD zu Steuerreform und Erhöhung der Militärausgaben [2] und 1914 durch die Gewährung der Kriegskredite zu einer nationalen Klasse geworden, die sich nun auch mit den Fragen der Weltpolitik konfrontiert sah [3].

3Dem Manifest liegen noch das von Hegel übernommene und auf das Proletariat bezogene Prinzip der Negation der Negation sowie die These zugrunde, die Modernisierung der Produktivkräfte vernichte langfristig « die Besonderheit der einzelnen Nationen » [4], die nur in dem Sinne eine historische Dimension besitzen, dass sie an die kapitalistische Produktionsweise gebunden sind und sich im Überbau als Nationalstaat konkretisieren. Das Proletariat sei die erste Klasse, die sich schon vom Nationalgedanken befreit habe [5] und es werde, das glaubte Engels in England festgestellt zu haben und von dort ausgehend generalisieren zu können, von einem eindeutigen Kosmopolitismus getragen [6]. Der langfristige Prozess der Überwindung nationaler Grenzen und Besonderheiten habe schon eingesetzt [7], an seinem Ende stehe die kommunistische Revolution, die alle Individuen aus ihren « nationalen und lokalen Schranken » befreien werde [8]. Auch nach der Katastrophe von 1870 und der durch sie erforderten strategischen Neuorientierung [9] gelten die Nationalstaaten langfristig als eine zu überwindende politische Realität und das Denken in nationalstaatlichen Kategorien als imaginärer Reflex auf vergangene wirtschaftliche Verhältnisse [10]. Nationalstaaten sind « die normale politische Verfassung des europäischen herrschenden Bürgertums », damit aber auch « unerlässliche Vorbedingung zur Herstellung des harmonischen internationalen Zusammenwirkens der Völker, ohne welches die Herrschaft des Proletariats nicht bestehen kann » [11]. Es bleibt beim Primat der Klasse über die Nation, der im Grunde genommen seit 1848 deutlich werdende Widerspruch zwischen der zunehmenden Internationalisierung des Kapitalismus und der nationalen, wenn nicht gar nationalistischen Gegenbewegung insbesondere der « geschichtslosen Völker » [12] im Osten und im Südosten Europas wird nicht in die Theorie aufgenommen, während sich die außenpolitische Analyse auf die russische Gefahr konzentriert [13].

4Gerade das nationale Denken und seine psychologischen Implikationen hätten jedoch autonom untersucht werden müssen, d.h. als sozialpolitische Faktoren, die von der Frage der politischen und sozialen Emanzipation analytisch zu trennen sind [14]. Diese blinden Flecke in der marxistischen Theorie, die auch Kautskys erste Stellungnahmen nicht behoben hatten [15], versucht Otto Bauer, motiviert durch die innerösterreichische Nationalitätenkrise [16], aber auch in bewusster Konkurrenz zu den Deutschnationalen [17], durch eine historisch fundierte Argumentation zu überwinden, die aus der Nation eine für das Proletariat zu erobernde politische Realität macht. Bauers Thesen, die die Debatten innerhalb der SPD bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs dominierten [18], werden zunächst referiert, dann kurz mit ihren Kritikern konfrontiert und abschließend in Beziehung zu Bauers dezidiert politischen Stellungnahmen zur nationalen Frage gestellt, um so das für Bauer wie allgemein für die SPD mit der Entdeckung der Nation verbundene Dilemma in Fragen der Friedenspolitik noch aus einer anderen Perspektive deutlich zu machen.

I

5Angesichts der explosiven Situation im Habsburger Reich – das er wie Karl Renner [19] retten will, während er dem Separatismus und insbesondere dem Selbstbestimmungsrecht der durch das Reich vereinten Nationen skeptisch gegenübersteht – versucht Bauer nicht nur, ein grundlegendes theoretisches Defizit des Marxismus zu beheben, sondern auch, eine pragmatische Lösungsmöglichkeit zu finden, die zugleich für die Zukunft Modellcharakter besitzt und somit die Grundsteine für die Ausarbeitung einer den historischen Gegebenheiten gerecht werdenden politischen Strategie legt [20]. Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass die innenpolitischen Konflikte zwischen den verschiedenen Nationen des Reiches aufhören werden, sobald deren kulturelle Autonomie juristisch verankert ist. Bauer empfiehlt dazu eine föderale Struktur, in der Nationalitätenkonflikte unmöglich seien, da Expansionswünsche, nationale Unterdrückung und wirtschaftliche Konkurrenz dauerhaft entfallen. Bauer folgt Renners Thesen, wenn er fordert, dass das Nationalitätenprogramm des Brünner Parteitages dahingehend ergänzt werden soll, dass nationale Minoritäten sich als öffentlich-rechtliche Körperschaften konstituieren können. Ausgehend vom Prinzip der Personalität – die Person bekennt sich zu einer Nation – sollen, wie es von den Kirchen praktiziert wird, in Kantonen und Distrikten nach nationalen Kriterien definierte Körperschaften gegründet werden, wodurch die Strukturen und Institutionen sich vervielfachen : jeweils nationale für kulturelle, administrative und die Lokalpolitik betreffenden Fragen, übernationale, in Bauers Terminologie staatliche Strukturen und Institutionen für den wirtschaftlichen und den genuin politischen Bereich [21].

6Bauer stützt sich auch dann auf Renner wenn er sagt, dass die Nation nicht die Summe der Individuen darstellt, sondern dass sie die Menschen miteinander verbindet, die eine ähnliche Art zu fühlen und zu denken besitzen. Jede Nation konkretisiert sich in einer sprachlichen und kulturellen Gemeinschaft und strebt zwangsläufig nach politischer Autonomie. Schon an diesem Punkt wird deutlich, dass in Bauers Augen der nationalen Zugehörigkeit eine größere Bedeutung zukommt als der Klassenlage. Der Perspektivenwechsel geht jedoch noch weiter, denn für Bauer stellt die Nation zwar eine dynamische, also veränderbare Kategorie dar, sie geht aber trotz des Klassenkampfes und der expandierenden Weltwirtschaft keineswegs ihrem Ende entgegen. Im Gegenteil : die nationalen Unterschiede und Besonderheiten werden weiterhin existieren und der reale Sozialismus wird die nationalen Prinzipien nicht zugunsten einer kosmopolitischen Struktur abschaffen, sondern er wird erst zu einer tatsächlichen Entfaltung der verschiedenen nationalen Kulturen, und damit der betroffenen Nationen führen (N, 166).

7Zweiter Ausgangspunkt dieser Theorie ist das Postulat, dass die Nationen und ihre jeweiligen Differenzen keine ontologische Dimension besitzen, sondern allein historisch zu verstehen sind. Bei seiner Rekonstruktion dieses Entstehungsprozesses insistiert Bauer der Tradition von Marx bis Kautsky folgend auf dem durch die Entfaltung des Kapitalismus ausgelösten staatlichen Verdichtungsprozess, setzt dann aber, wie an dem Begriff der Schicksalsgemeinschaft und dem der Nationalcharaktere und der zu gründenden Kulturgemeinschaft deutlich wird, die Akzente entschieden anders. Der missverständliche – und oft missverstandene – Begriff der Schicksalsgemeinschaft [22] verweist dabei auf die an das Territorium und die Lebens- und Arbeitsbedingungen gebundenen menschlichen Erfahrungen. Geschichtliche Erfahrungen, in denen, so wiederum das implizite Postulat, die psychologischen Gemeinsamkeiten höher stehen als die sozialen Differenzen, also das Zusammengehörigkeitsgefühl die Klassenlage übertrumpft. Bauer ignoriert letztere nicht, betont Arbeitsteilung und Klasseninteressen, sieht diese aber letztlich als sekundär an. Schicksalsgemeinschaft « bedeutet nicht Unterwerfung unter gleiches Schicksal, sondern gemeinsames Erleben desselben Schicksals in stetem Verkehr, fortwährender Wechselwirkung miteinander » (N, 172). Kein identisches Schicksal, diesen nahe liegenden Schritt in den Idealismus tut Bauer nicht, sondern « nur das gemeinsame Erleben und Erleiden des Schicksals, die Schicksalsgemeinschaft, erzeugt die Nation » (N, 172). Dieser Ansatz ist jedoch dialektisch zu verstehen, denn Bauer postuliert zugleich gegen das liberale, atomistische Verständnis der Nation, die Nation sei nicht die Summe der Individuen, sondern das Individuum sei das Produkt der Nation und trage diese in sich (N, 185). Die Nationalität wird somit identitätsstiftend, Selbstliebe und Liebe zur Nation fallen symbiotisch zusammen. Sie sind weder das « Ergebnis sittlichen Kampfes » noch Auswirkung eines rational errichteten ethischen Prinzips, denn an ihrem Ursprung steht der « tierische Trieb der Selbsterhaltung » (N, 202). Der kritische Anspruch der Studie resultiert u.a. aus dem durch diese irrationale Verankerung des Nationalgefühls ausgelösten Widerspruch zwischen subjektiver, d.h. national oder gar nationalistisch geprägter Wertung und objektiver, d.h. rationaler Einschätzung der tatsächlichen Situation, ein Widerspruch, den laut Bauer jeder Mensch erlebt, und der durch die Klassenwidersprüche und die politischen Konflikte noch verstärkt wird und den deutlich zu machen, Ziel der Untersuchung ist (N, 207). Trotz dieses kritischen Anspruchs kommt es jedoch schon hier zu problematischen Thesen, etwa dann wenn Bauer notiert, die Begegnung mit Ausländern provoziere spontane « Unlust » (N, 200), während die « Vorstellung der eigenen nationalen Art ein Gefühl der Lust » hervorrufe (N, 201). Diese in latente Feindseligkeit umschlagende Selbstliebe kann nur dann durch den Selbsterhaltungstrieb und Bauers Verständnis der Nationalcharaktere erklärt werden, wenn der Leser das zugrunde liegende darwinistische Substrat zur Kenntnis nimmt [23]. Folgt man Bauer, so erwächst die Charaktergemeinschaft aus der Schicksalsgemeinschaft : « Die Nation ist die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen » (N, 194). Hier treibt Bauer nun, u.a. unter Berufung auf Wundt (N, 63) und auf Schallmayer (N, 181), das Prinzip der Nationalcharaktere auf die Spitze, wobei jede internationale Perspektive verloren geht :

8

In der individuellen Eigenschaft, die jedes Individuum mit den anderen Individuen seines Volkes gemein hat, durch die es mit diesen anderen Individuen zu einer Gemeinschaft zusammengeschweißt wird, ist die Geschichte seiner (leiblichen und kulturellen) Ahnen niedergeschlagen, sein Charakter ist erstarrte Geschichte.
(N, 182)

9Der Verweis auf die « leiblichen und kulturellen Ahnen » deutet schon an, worum es Bauer geht : die Entstehung der Nationalcharaktere durch genetische Weitergabe im Sinne der Auslese physischer Typen auf Grund der jeweiligen Überlebenschancen einerseits (N, 87), durch Vermittlung des kulturellen Erbes andererseits (N, 92). Diese Theorie hat nun weit reichende Konsequenzen ; Bauer argumentiert zwar vorsichtig, etwa dann, wenn er unterstreicht, dass eine substantielle Definition der Nationalcharaktere unmöglich sei, da der Nationalcharakter eine « historische Erscheinung », nämlich « Niederschlag einer geschichtlichen Entwicklung » sei (N, 196) und gerade deshalb veränderlich sei : die Verbindung der Mitglieder einer Nation durch den Charakter gelte immer nur für eine bestimmte, von einem Jahrzehnt bis maximal einem Jahrhundert reichende Periode (N, 71). Zugespitzt formuliert ändere sich der Nationalcharakter mit jedem geschichtlichen Ereignis, das die Nation betrifft (N, 189). Gerade diese u.a. gegen Gobineau gerichtete Argumentation gerät jedoch aus dem Blick, sobald es um konkrete geschichtliche Prozesse geht, wodurch sich Bauer in unauflösbare Widersprüche verwickelt. Bestes Beispiel hierfür ist die unterschiedliche Entwicklung des Kapitalismus in England und Deutschland und deren Beziehung zu kollektiven Mentalitäten, die Bauer weder auf ökonomische Strukturen noch im Sinne Webers auf aus religiösen Dogmen resultierende psychologisch-kulturelle Dispositionen zurückführt, sondern allein mit dem Nationalcharakter erklärt, nämlich

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[…] die Tatsache, dass derselbe Reiz verschiedene Bewegungen auslöst, dieselbe äußere Lage verschiedene Entschließung hervorruft. Diese Verschiedenheit der Willensrichtung ist aber durch die Verschiedenheit der von einer Nation erworbenen Vorstellungen oder der einer Nation im Daseinskampfe angezüchteten körperlichen Eigenart ursächlich bestimmt.
(N, 171-172)

11Direkt mit dieser Verabsolutierung der Nationalcharaktere verbunden ist auch Bauers faktische Nationalisierung der Klassenlage : er gesteht zwar ein, dass die gleiche Klassenlage bei den Proletariern verschiedener Länder « gleiche Züge eingegraben » habe (N, 173), aber diese Charakterzüge erweisen sich in seinen Augen wiederum als sekundär im Vergleich zu denen, die dem nationalen Code entsprechen, denn die Schicksalsgemeinschaft « scheidet sie von den internationalen Charaktergesamtheiten des Berufes, der Klasse, des Staatsvolkes, die auf der Gleichheit des Schicksals, nicht auf Schicksalsgemeinschaft beruhen » (N, 173). Hier fallen Psychologisierung der Geschichte und Nationalisierung der Klassenlage zusammen und führen zu einem methodologischen Bruch mit Marx, der nicht ohne Auswirkungen auf die politische Argumentation und das Verhältnis von Nationalismus und Internationalismus bleibt. Und Bauer ist nur konsequent, wenn er mehrmals auf die Notwendigkeit der Solidarität mit dem tschechischen Proletariat verweist, dieses Interesse für eine Erhöhung des Lebensniveaus der Tschechen aber letztendlich dadurch legitimiert, dass den deutsch-österreichischen Arbeitern dadurch auf Dauer die Anwesenheit von tschechischen Lohndrückern erspart bleibt (N, 357). Der wiederholte Aufruf zum gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus wird so zu einem Lippenbekenntnis, das die Orientierung an den nationalen Interessen, die Sorge um das im « Daseinskampf » bedrohte deutsch- österreichische Proletariat nicht zu verdecken vermag.

12Wird der Darwinismus schon bei den Reflexionen über den Nationalcharakter deutlich, so impliziert Bauers Verständnis der Kulturgemeinschaft eine deutschnationalen Perspektive, die einerseits einer Hierarchisierung der Kulturen vorarbeitet, andererseits die verschiedenen Kulturen in eine Konkurrenzsituation stellt. Dabei bewegt sich Bauer zunächst auf dem Boden der Orthodoxie und erklärt die Entstehung der existierenden nationalen Kultur durch den Fortschritt der Produktivkräfte (N, 153) : die Bedingungen, unter denen die Menschen ihr Überleben erarbeiten und sich die Früchte ihrer Arbeit teilen, bestimmen das Schicksal eines jeden Volkes ; auf Basis der jeweiligen Produktions- und Distributionsweise entsteht eine intellektuelle Kultur von der die Massen ausgeschlossen sind (N, 90). Die Arbeit der einen wird zur Kultur der anderen (N, 154) [24]. Aus Bauers an dem Kanon der deutschen Klassik orientierten Kunst- und Kulturverständnis resultiert dann logisch die These, dass nur die besitzenden Klassen über Kultur verfügen, während die Ungebildeten und Besitzlosen kulturlos bleiben. Insofern sei die Kulturgeschichte der Nation bisher allein die der besitzenden Klassen gewesen. Erst wenn die kulturellen Güter von den Massen erobert werden, eignen diese sich auch die Geschichte der Nation an und nehmen so an der Ausdifferenzierung der nationalen intellektuellen und kulturellen Besonderheiten teil (N, 164). Worin dieser Beitrag bestehen soll, bleibt angesichts der postulierten aktuellen Kulturlosigkeit der arbeitenden Massen offen. Und wenn Bauer immer wieder betont, dass der Klassenkampf auch einen Kampf um die Kultur darstellt, dass eine tatsächliche nationale Kultur ohne die Teilnahme der Arbeiterklasse nicht möglich sei, so ist dieses Argument eben nur quantitativ, darwinistisch, und nicht qualitativ zu verstehen. Es geht ihm vor allem darum, der deutschen Kultur eine möglichst große Trägerschaft zu vermitteln, die allein ihre Existenz in der internationalen Konkurrenzsituation garantieren kann.

13Diese Lektüre wird durch weitere ambivalente Anmerkungen Bauers bestätigt, die erst im Horizont des Darwinismus ihre volle Bedeutung erhalten ; so z.B. die These derzufolge die herrschende wirtschaftliche Ausbeutung die Entfaltung der Nation als Kulturgemeinschaft verhindere (N, 154) ; der Tag, an dem die arbeitenden Massen sich der Kultur annehmen, werde der Entstehungstag « voller nationaler Kulturgemeinschaft » sein (N, 156). Geht es darum, die Ausbeutung zu beenden, da diese den politisch-moralischen Prinzipien des Marxismus widerspricht, oder geht es darum, der nationalen Kultur eine quantitativ konkurrenzfähige Basis zu verleihen, für die das Ende der Ausbeutung nur noch ein Mittel darstellt ? Die Frage nach den Prioritäten stellt sich um so mehr, als dass die schon zitierte « Unlust » im Umgang mit dem Ausland auch im Bereich der Kunst wieder auftaucht, dann nämlich, wenn Bauer schreibt, dass ausländische Kunstwerke auf den Rezipienten nicht in dem gleichen Masse wirken wie die, die aus der nationalen Tradition stammen (N, 178). Das mag vielleicht für schlecht übersetzte literarische Texte gelten, nicht jedoch für Kunst allgemein. Vergessen wir weiterhin nicht die Tatsache, dass Marx’ Überlegungen zu Status und historischer Determination der Kunstwerke gerade von der Frage ausgingen, warum die griechische Kunst noch immer fasziniert « und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster » gilt [25]. Für solche Überlegungen ist im national-darwinistischen Denken von Otto Bauer jedoch kein Platz mehr.

14Der von Bauer vollzogene Bruch mit der marxistischen Tradition wird nun in seiner ganzen Tragweite deutlich. Galt die Frage der Nation von Marx bis Lenin als taktische Frage, deren Status auch trotz der zahlreichen Widersprüche und tagespolitischen Konzessionen nicht modifiziert wurde, so wird sie für Bauer zu einem eigenständigen Wert [26], der mit einem Pathos verteidigt wird, das ihn auch vom bürgerlichen Nationalismus nicht mehr unterscheidet. Das Pathos, mit dem Bauer den Begriff der Nation auflädt wird in dem folgenden abschließenden Gedankengang exemplarisch deutlich : der bürgerliche Nationalismus besitzt soziologisch gesehen nur eine beschränkte Basis. Das Proletariat jedoch stellt quantitativ gesehen einen wesentlich wichtigeren Faktor dar und es wird sich nach der revolutionären Erhebung (deren Modalitäten, d.h. tatsächlich revolutionäre Qualität, nicht bestimmt werden) als nationale Klasse konstituieren und damit den kulturellen und intellektuellen Kräften der Nation erst erlauben, sich tatsächlich zu entfalten [27]. Da die Bourgeoise das alte Ideal des Nationalstaats verraten hat und nun nach einem multinationalen imperialistischen Staat strebt, wird das von der Bourgeoisie verratene Nationalitätenprinzip schon jetzt zum Erbe und zum Besitz der Arbeiterklasse (N, 541). Die sozialistische Gesellschaft wird dann dank der von ihr zum Prinzip erhobenen nationalen Erziehung die Nationen weiter differenzieren und somit die kulturelle Blüte der deutschen Kultur vorantreiben (N, 166). Denn erst der Sozialismus wird eine tatsächlich nationale Erziehung durchführen : unter explizitem Bezug auf Fichte fordert Bauer programmatisch, dass man dann « in jedem Kind der Nation, durch die Vermittlung der nationalen Kultur, wahrhaft den Nationalcharakter hervorbringt » (N, 163). Dass es ihm dabei auch um das kulturelle Überleben der deutschen Nation geht, schreibt er in der Nationalitätenfrage nicht explizit ; in den gleichzeitig veröffentlichten und an das breite Publikum adressierten Broschüren finden sich dafür aber die bedrückenden Belege. Bevor wir auf sie eingehen, sei jedoch kurz auf die von Bauer ausgelösten Debatten verwiesen.

II

15In den durch die Nationalitätenfrage provozierten Kontroversen stehen auf den ersten Blick die mit dem Begriff der Gemeinschaft verbundenen Methodenfragen im Vordergrund. Schaut man etwas genauer hin, stellt man jedoch fest, dass sich dahinter die wesentlich explosivere Frage nach dem Verhältnis zur Nation und zum Deutschtum versteckt, was zu dem paradoxen Befund führt, dass sich Bauer in Methodik und Theoriebewusstsein seinen Kontrahenten gegenüber als überlegen erweist, im dezidiert politischen Bereich jedoch kläglich versagt.

16Relativ leichtes Spiel hat Bauer mit Joseph Strasser [28], der gegen diejenigen polemisiert, die eine « nationale Färbung des Sozialismus » vertreten, also gegen Pernerstorfer, Hartmann, Leuthner und auch gegen das Zentrum, also Renner und Bauer selber [29]. Die Berufung auf Macht und Größe der Nation sei für die SPD unnötig, da die Arbeiterklasse an Fragen kein Interesse habe, die sich nicht direkt auf ihre konkreten Lebensverhältnisse beziehen. Hier kann Bauer zu Recht erwidern, dass Strassers rein ökonomische Argumentation « grobmaterialistisch » vorgeht und von dem zu einer « Massenideologie » gewordenen Nationalismus nicht befreien kann, da sie dessen Existenz verleugnet [30]. Der « Macht ererbter Gefühle, die der Niederschlag eines Jahrhunderts weltgeschichtlicher Stürme sind, ist die Krämerweisheit, die nur mit Kronen und Hellern rechnet, nicht gewachsen » [31]. Hinter der pathetischen Formulierung versteckt sich die trotz Bauers wiederholter Verweise auf den « neuen Menschen » eindeutig formulierte Einsicht, dass Revolutionen immer nur fragmentarisch sein können, dass wie schon zuvor die Entstehung, nun auch das hypostasierte Verschwinden des Kapitalismus die existierenden mentalen und kulturellen Strukturen nicht vollständig zum Verschwinden bringen kann, was auf die Methode bezogen bedeutet, dass der monokausale Erklärungsansatz überwunden werden muss, da das Nationalbewusstsein – und damit auch die jeweils individuelle Identität des Menschen – durch eine Vielzahl von Faktoren generiert wird, die nicht allein von der Klassenzugehörigkeit deduziert werden können.

17Dieser Offenheit in der Methodenfrage widerspricht nun Bauers Blindheit im politischen Umgang mit der nationalen Frage, so wie sie in der Debatte mit Kautsky deutlich wird. Kautsky, der sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus einer defensiven Position heraus zu zumindest verbalen Konzessionen an das Nationalgefühl seiner Leser genötigt glaubt [32], gibt zunächst eine positive Einschätzung der Überlegungen von Renner und Bauer und betont explizit, dass deren Widersprüche zu Marx historisch notwendig sind, ein Neuansatz also wünschenswert war [33]. Dann macht er jedoch entscheidende Einwände, die sich gegen die von Bauer vorgeschlagene Terminologie richten. Ausgehend von seiner schon 1887 formulierten These, die Nation sei eine Sprachgemeinschaft [34], selbst wenn eine Sprachgemeinschaft zwei Nationen umfassen kann, also beide nicht zwangsläufig ineinander aufgehen müssen [35], heißt es in Hinblick auf die von Bauer in den Vordergrund gestellte Schicksalsgemeinschaft, jede soziale Formation sei eine Schicksalsgemeinschaft, jede Gesellschaft habe ihre Traditionen und ihr Schicksal, die Tatsache, dass die Kultur und das Schicksal einer Gruppe gemein sind unterscheidet diese noch nicht von anderen. Zudem führen die Klassenunterschiede auch kulturelle Unterschiede mit sich, die sich als wichtiger als die kulturellen Besonderheiten der verschiedenen Nationen erweisen können [36]. Das Konzept der kulturellen Gemeinschaft sei also nicht tragfähig ; dies um so weniger, als dass Bauers Kulturbegriff an der Kultur der Eliten orientiert sei, was dazu führe, dass die Volksmassen in ganzen Epochen aus der Nationalgeschichte herausfallen [37]. Gleiche Skepsis äußert Kautsky gegenüber der Idee des Nationalcharakters : es gibt bestenfalls gruppenspezifische Charaktere und die erklären sich durch die Geographie, das Klima und die Arbeitsbedingungen [38].

18Bauer, der hier in den zentralen Punkten seiner historischen Rekonstruktion angegriffen wird, geht in seiner Antwort über eine sehr allgemein gehaltene prinzipielle Unterscheidung zwischen verschiedenen Formen von Ideologien nicht hinaus. Er verweist auf Marx’ Analysen zum Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Veränderungen in Staats- und Rechtsordnungen, ein Bereich, in dem der Einfluss der wirtschaftlichen Basis auf den ideologischen Überbau relativ eindeutig sei. Anders sei es jedoch im Bereich von Kunst und Wissenschaft und deren Ausdrucksformen. Wolle man auch hier mit den Mitteln der Ideologiekritik vorgehen, so sei eine « Selbstbesinnung » über diese Methode notwendig [39]. Diese müsse zu einer « formalen Soziologie » [40] ausgebaut werden, wobei einerseits die soziale Integration des Individuums in verschiedene Gruppen, also die Unterscheidung von Gemeinschaften und Gesellschaften, andererseits die Berücksichtigung von Phänomenen der Diskontinuität entscheidend sei [41].

19Mit anderen Worten erfasst Bauer klar die Grenzen der orthodoxen Ideologiekritik und zieht daraus Konsequenzen für die Beziehung von kultureller Tradition und individueller Identität und für deren ästhetische Ausdrucksformen. Auch hier geht Bauer souverän über die monokausale und reduzierende Ideologiekritik von Marx und Engels hinaus, wie sie von der entstehenden marxistisch orientierten Literaturkritik (Mehring) übernommen wird. Andererseits hält er jedoch stur an dem Begriff der Gemeinschaft und insbesondere an dem der Schicksalsgemeinschaft fest, ohne sich tatsächlich mit den von Kautsky vorgetragenen Argumenten auseinanderzusetzen [42]. Bauers pure Unfähigkeit zum Verstehen der Gegenargumente wird bezeichnenderweise dann deutlich, wenn Kautsky die Frage der nationalen bzw. der internationalen Kultur anschneidet :

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Eine rein nationale Kultur ist jedoch angesichts des sich ausbreitenden internationalen Kapitalismus nicht mehr denkbar und es ist also höchst seltsam, dass Bauer die Volksmassen zu einer nationalen Kultur erziehen will. [43]

21Hier treffen Kautskys – in diesem Falle klarsichtigere – ökonomische nach vorne gerichtete und Bauers rückwärtsgewandte kulturelle Lektüre aufeinander und machen einen tatsächlichen Dialog unmöglich. Zur Verteidigung seiner eigenen Thesen erwidert Bauer nur, dass er erstens den Fall des kulturellen Mischlings in Betracht gezogen habe [44] und dass er zweitens nicht gegen das Eindringen fremder Kulturelemente, also die Internationalisierung der Kultur sei [45]. Auf Grund der Kontinuität des menschlichen Bewusstseins bleibe es aber trotz teilweise identischer « Kulturelemente » immer bei der national geprägten Kultur und das sei nicht durch die Sprache erklärbar, sondern allein durch die geschichtliche Entwicklung [46]. Mit anderen Worten : es bleibt beim Nationalcharakter, bei der durch ihn produzierten und der allein für ihn angemessen verständlichen nationalen Kultur. Es bleibt dabei, dass es « nirgends eine andere als eine nationale Kultur gibt und dass die internationale Kultur nichts anderes sein kann als der Inbegriff der verschiedenen nationalen Kulturen gemeinsamen Elemente » [47].

22Die Kontroverse hat also zu keiner Klärung der Positionen geführt. Bezeichnend für das Dilemma der SPD in Fragen der nationalen Kultur und der nationalen Politik angesichts der erhöhten Sensibilisierung der Wählerschaft in diesen Bereichen ist die doppelte Tatsache, dass einerseits Kautsky trotz seiner zitierten Bedenken und des zentralen Vorwurfs, Bauer habe die nationale Dimension überschätzt und die internationale unterschätzt, sei also an der Synthese von Nationalismus und Internationalismus gescheitert [48], Bauers – und Renners – Nationenprojekt nicht nur als Möglichkeit bezeichnet, die innerösterreichischen Konflikte zu beseitigen [49], sondern auch als mögliche internationale Organisationsform nach dem Sieg des Proletariats [50] präsentiert, während Bauer seinerseits in der Krisenperiode bis zum Ausbruch des Krieges zu einer deutschnationalen Semantik übergeht, in der der darwinistische Ansatz immer mehr in den Vordergrund tritt.

III

23Um das ganze Drama von Bauers genuin politischen Stellungnahmen angemessen zu würdigen und um den Eindruck zu verhindern, bei ihm handele es sich um einen banalen Chauvinisten ohne politisches Orientierungsvermögen, muss noch einmal an die für ihn wie für Renner zentrale These erinnert werden, die Lösung der Minoritätenfrage, damit aber auch generell die Befriedigung nationaler Ansprüche, sei eine Voraussetzung für erhöhte Solidarität der Arbeiter untereinander und damit für den Klassenkampf : die « nationale Autonomie schafft den Klassenkämpfen in Österreich erst freie Bahn » [51], da die nationale Frage auch das Proletariat stärker mobilisiert als der politische Druck oder die wirtschaftliche « Knechtung » [52]. Diese doppelte These, verbunden mit der Behauptung, die « nationale Fahne » sei nur ein « Fetisch » [53], steht nun jedoch in flagrantem Widerspruch zu den dezidiert politischen Stellungnahmen, in denen die sich nicht nur auf Schiller, Kant und Humboldt, sondern auch auf Arndt, Fichte und W. Schlegel berufende Verteidigung der Nation [54] zunehmend darwinistische Züge annimmt und sich nicht mehr von entsprechenden Stellungnahmen aus dem bürgerlichen deutschnationalen Lager unterscheiden lässt.

24Beginnen wir mit einem sehr einfachen Beispiel, das belegt, in welch engem Zusammenhang theoretische und praktisch-politische Stellungnahmen bei Bauer stehen, nämlich der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung :

25

[…] acht Stunden wollen wir Deutsche sein, die sich in die Tiefen der deutschen Wissenschaft versenken, die sich der Gaben deutscher Künstler freuen, die ihre Kinder in deutscher Art und Sitte unterweisen. Der Kampf, dem der erste Mai geweiht, er ist ein Kampf um den Besitz deutscher Kultur. [55]

26Dass der Achtstundentag eine legitime politische Forderung der Zeit war, wird niemand bestreiten. Dass die freiwerdende Zeit zur Aneignung der Kultur benutzt werden kann, auch nicht. Aber Kultur wird von Bauer ausschließlich im Sinne deutscher Kultur verstanden, ausländische Werke tauchen nicht am Horizont dieses unpolemischen Textes auf, den tatsächlich auch ein Arndt oder ein August Wilhelm Schlegel geschrieben haben könnten. Doch dabei bleibt es leider nicht. Das zeigt sich zunächst in der folgenden Anmerkung, deren naiver Tonfall nicht verbergen kann, was tatsächlich auf dem Spiel steht : laut Bauer freut sich jeder Deutsche unabhängig von seiner politischen Orientierung, wenn die Bevölkerungszahl steigt, « wenn seine Heimat deutsch bleibt, wenn friedliche Assimilation die nationale Reibungsfläche verkleinert » [56]. Diese Überlegung ist zu verbinden mit dem Postulat, auch die Politik der SPD müsse sich für « die äußere Größe und den inneren Reichtum der Nationen » einsetzen [57]. Dabei handelt es sich weder um punktuelle Ausrutscher, noch um bewusste Konzessionen an deutschnationale Positionen, sondern eindeutig um die Aufnahme darwinistisch geprägter sozialpolitischer Grundprinzipien. Aus diesem Grund nimmt die Frage der Demographie bei Bauer fortan eine zentrale Stellung ein : da die Macht jeder Nation von der Größe ihrer Bevölkerung abhängt, muss jede wirklich nationale Politik darauf abzielen, die Bevölkerung der eigenen Nation zu vermehren, also z.B. die bestehenden juristischen Hindernisse beseitigen, um so die Eheschließungen bei der agrarisch- ländlichen Bevölkerung zu vereinfachen [58]. Die daraus resultierende Erhöhung der Geburtenzahl der Unterschichten wäre « wahrhaft national », denn sie würde « das Machtverhältnis der Deutschen zu den Slawen und Italienern zugunsten unseres Volkes verändern » [59] ; Die Steigerung der Geburtenrate erweist sich jedoch als ein langfristiges politisches Projekt, deshalb muss gleichzeitig alles getan werden, um die Sterberate zu senken, denn « alles, was die Lebensdauer des Arbeiters verkürzt, hemmt das Wachstum der deutschen Volkszahl, verringert die Macht der deutschen Nation » [60].

27Diese Zitate sollen keineswegs als bewusste Fremdenfeindlichkeit oder gar als Kriegsfreudigkeit überinterpretiert werden. Festzuhalten ist allerdings, dass Bauers Argumentation explizit und wiederholt nicht nur an der Größe, sondern auch an der Macht der deutschen Nation orientiert ist. Lässt sich der erste Begriff noch mit kultureller Blüte und allgemeiner Erhebung des Lebensniveaus verbinden, so ist dies bei der Frage der Macht ausgeschlossen, wodurch sich eine semantische Kongruenz mit auf Expansion abzielenden bürgerlich- nationalistischen Positionen ergibt. Zu betonen ist weiterhin, dass hier nicht mehr von Solidarität unter Arbeitern, sondern von einer Konkurrenzsituation zwischen Deutschen, Italienern und Slawen die Rede ist, einer Konkurrenzsituation, die eindeutig auf den Kampf der Völker um ihr « Dasein » verweist. Dass ausgerechnet die Slawen angesichts der im Reich – und in der Partei ! – herrschenden Spannungen als Beispiel für Konkurrenten herhalten müssen, zeugt nicht nur von Bauers absoluter Unfähigkeit zu rational – strategischem, also politischem Verhalten, sondern auch von seiner Unmöglichkeit, von der Angst um das Überleben der deutschen Kultur und damit der deutschen Nation zu abstrahieren [61]. Diese Orientierung an den darwinistischen Grundprinzipien erklärt nun auch, warum Bauer die SPD als gegenwärtige [62] und zukünftige [63] Verteidigerin der nationalen Sache in Anspruch nimmt und warum er gleichzeitig den bürgerlichen Parteien die Fähigkeit zu einer den nationalen Interessen gerecht werdenden Politik abspricht : « Kapitalistisches Profitstreben und nationales Machtstreben schließen einander aus. » [64]

28Hier ist, wie generell in Bauers Kampf gegen die kapitalistische Unterdrückung, eine perfide Logik am Werk, die die Zwecke mit den Mitteln vertauscht, eine Logik, die auch der geduldigste Leser nur mit Erschrecken zur Kenntnis nimmt : das deutsche Volk steht in einem Überlebenskampf mit den anderen Völkern, seine Bevölkerungszahl muss also erhöht werden. Das ist am einfachsten durch eine Erhöhung des Lebensniveaus der ohnehin schon zahlreichsten Klasse zu erreichen. Deshalb ist jede Sozialreform eine Tat für die Nation, während umgekehrt der Liberalismus die Interessen der Nation verrät :

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Jeder Sieg der Arbeiterklasse war aber ein Erfolg der deutschen Nation ! [65]
Diesen Machtzuwachs verdankt die deutsche Nation nicht den Schreibern, die ihren Namen eitel im Mund führen, sondern der internationalen Sozialdemokratie. [66]
Alles, was die Lebensdauer des Arbeiters verkürzt, hemmt das Wachstum der deutschen Volkszahl, verringert die Macht der deutschen Nation. [67]

30Selbstverständlich kann man diese Gedanken auch anders formulieren, dann heißt es eben, der Klassenkampf sei nicht nur ein Kampf um die deutsche Kultur, sondern auch « ein Kampf für die Größe der deutschen Nation » [68]. Zur Kohärenz und Effizienz dieser Logik gehört auch die Tatsache, dass Bauer gleichzeitig den Internationalismus auf ein absolutes Minimum heruntergeschraubt : für ihn ist in Österreich der « freien Völker freier Bund » schon « anschauliche Wirklichkeit am heutigen Tage », da « die Proletarier aller Länder brüderlich einander grüssen ». Und diese Brüderlichkeit werde « morgen » politische Realität für alle [69]. Nun mag freundliches Grüssen rückblickend angesichts der Gemetzel des ersten Weltkriegs als ein geringeres Übel erscheinen ; das Beispiel beweist aber vor allem, in welchem Masse die darwinistischen Elemente Bauers politisches Denken determiniert und damit eine internationalistische Orientierung unmöglich gemacht haben. Dass Bauer zum gleichen Zeitpunkt besorgt feststellt, dass die « nationalistische Hetze auch einen Teil der Arbeiter für einen Augenblick irregemacht hat » [70], entbehrt nicht einer gewissen tragischen Komik.

Ausblick

31Chronologisch gesehen steht der erste Weltkrieg am Horizont von Bauers Schriften. Politisch gesehen nicht unbedingt. Kriegsfreudigkeit ist ihm nicht zu unterstellen. Sein « proletarischer Nationalismus » ist erschreckend genug. Weitaus erschreckender als die traditionell in diesem Zusammenhang zitierten Konzessionen und verbalen Verrenkungen des sozialdemokratischen Zentrums. Man ist zwar gegen das herrschende Militärsystem, aber nicht, um den Staat zu schwächen, sondern um es durch ein anderes, effizienteres System zu ersetzen [71]. Das Proletariat hat sich für den Frieden eingesetzt, dabei aber keine nationalen Interessen geopfert [72]. Die Sozialdemokraten sorgen sich um das « Gedeihen des Landes » und stehen in der « nationalen Solidarität » [73], was sie vor ein dramatisches Dilemma stellt : hier die Nation, dort der Internationalismus [74]. Sicherlich, der Krieg der Armeen muss so schnell wie möglich beendet werden und der Klassenkampf wieder aufgenommen werden [75]. Das heißt aber, dass dieser suspendiert ist [76] ; die SPD lässt sich die Themen diktieren, ihre eigenen Forderungen sind vertagt. Kein Wort über den Krieg gegen England und Frankreich, deren Regierungen wohl kaum eine mit Russland vergleichbare Gefahr darstellen [77]. Es wäre leicht, weitere Stellungnahmen anzuführen, die ebenfalls belegen, in welchem Masse die Mehrheit der SPD – Politiker sich den dominierenden nationalistischen Tendenzen angepasst hat [78]. Diese Anpassung ist das fast zwangsläufige Resultat nicht nur der Regierungspropaganda seit Bismarck, sondern auch einer über Jahrzehnte hinweg defizienten Theoriebildung, an deren Ende sich der Internationalismus der radikalen Linken ebenfalls als aporetisch erweist, da er immer noch nicht die Nation als geschichtliche und psychologische Potenz erkannt hat. Dies getan zu haben ist der Verdienst von Otto Bauer. Die darwinistische Grundierung seiner Argumentation wie seiner politischen Stellungnahmen erlaubt allerdings keine Bekämpfung genuin nationalistischer Politik in Österreich oder im Deutschen Reich. Ganz im Gegenteil.

Notes

  • [*]
    Wolfgang FINK, Université de Lyon (Université Lyon 2), 86, rue Pasteur, F-69007 LYON ; courriel : Wolfgang.Fink@univ-lyon2.fr
  • [1]
    Karl Marx, Friedrich Engels : Das Manifest der Kommunistischen Partei, Marx-Engels Werke [MEW] Bd. IV, Berlin : Dietz, 1990, S. 479.
  • [2]
    Helga Grebing : Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, München : Nymphenburger Verlagshandlung, 1970, S. 105.
  • [3]
    Schon die Deutsche Ideologie interpretiert bewaffnete Konflikte als Kämpfe um die Aufteilung des Weltmarkts. Vgl. Karl Marx, Friedrich Engels : Deutsche Ideologie, MEW Bd. III, Berlin : Dietz, S. 58. In dem Sinne blieb das Proletariat auch hier von der Politik ausgeschlossen : Die Kriege werden immer nur von den anderen geführt. Diese Überzeugung entsprach zwar der historischen Situation, begrenzte aber auch das politische Denken der organisierten Arbeiterschaft : man ist und bleibt passives Opfer. Zweifel an der Fähigkeit zu dezidiert politischem Handeln, insbesondere in der Außenpolitik, wurden schon von Zeitgenossen formuliert, so 1909 von Karl Radek in Die auswärtige Politik der deutschen Sozialdemokratie (in : Gesammelte Aufsätze und Abhandlungen, Bd. I, München 1921, S. 17ff). Vgl. auch den Rückblick von Arthur Rosenberg : « Zu den Problemen der Außenpolitik und des Militärwesens, der Schule und der Justiz, der Verwaltung, ja sogar der Wirtschaft im allgemeinen […] hatte der durchschnittliche sozialdemokratische Funktionär kein inneres Verhältnis. Er dachte nicht daran, dass einmal der Tag kommen könnte, an dem er, der Sozialdemokrat, alle diese Dinge würde entscheiden müssen. » Arthur Rosenberg : Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt am Main : Europäische Verlagsanstalt, 101969, S. 12.
  • [4]
    Deutsche Ideologie (Anm. 3), S. 60.
  • [5]
    Deutsche Ideologie (Anm. 3), S. 60.
  • [6]
    Friedrich Engels : Das Fest der Nationen in London, MEW Bd. II, Berlin : Dietz, 1985, S. 614.
  • [7]
    Das Manifest der Kommunistischen Partei (Anm. 1), S. 479.
  • [8]
    Deutsche Ideologie (Anm. 3), S. 36.
  • [9]
    Nach dem Fall der Pariser Kommune und der erwiesenen Unfähigkeit des europäischen Proletariats, den Krieg zu verhindern, galt es, die Arbeiterbewegung[en] in den jeweiligen nationalen Rahmen zu integrieren, um ihre Einflussmöglichkeit zu erhöhen. Ihre Fähigkeit, sich zu mächtigen nationalen Organisationen zu vereinigen stellte die Vorbedingung zur Wiederherstellung der Internationale dar ; die Arbeiterbewegung war also internationalistisch ausgerichtet, konkretisierte sich aber zunächst im Nationalstaat, dessen Entfaltung sie, über Marx hinausgehend, fortan unterstützt. Vgl. René Gallissot : « Internationalisme » in Gérard Bensussan, Georges Labica (dir.) : Dictionnaire critique du marxisme, Paris : Presses Universitaires de France, 1999, p. 617.
  • [10]
    Hans Mommsen : Arbeiterbewegung und Nationale Frage, Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 1979, S. 69.
  • [11]
    Friedrich Engels : Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, MEW Bd. 21, Berlin : Dietz, 1975, S. 407. Was das Selbstbestimmungsrecht der Völker betrifft, so wurde es selten kohärent verteidigt, sondern blieb wechselnden strategischen Überlegungen untergeordnet.
  • [12]
    Die Polemik gegen die « Völker ohne Geschichte » steht im Fahrwasser Hegels (vgl. G.W.F. Hegel : Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. XII, Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1970, S. 56) und radikalisiert sich ab 1848. Insbesondere in Engels’ Augen standen 1848 allein die « historischen Völker » auf den Barrikaden, während die « geschichtslosen », d.h. die slawischen Völker, sich mit dem Zar verbanden, was völkerpsychologisch, nämlich durch ihren angeblich konterrevolutionären Charakter erklärt wird. Vgl. Karl Marx, Friedrich Engels : Der demokratische Panslawismus (in MEW Bd. VI, Berlin : Dietz, 1959, S. 270ff) und Der magyarische Kampf (in MEW Bd. VI, S. 168 und S. 172).
  • [13]
    Die befürchtete russische Expansion durchzieht, zusammen mit der Forderung, das Proletariat müsse aus jeder internationalen Krisensituation strategischen und symbolischen Gewinn ziehen, leitmotivartig die Texte zur Außenpolitik. Zur frühen Polemik gegen Russland vgl. Karl Marx, Friedrich Engels : Die auswärtige deutsche Politik und die letzten Ereignisse in Prag, MEW Bd. V, Berlin : Dietz, 1982, S. 202ff.
  • [14]
    Mommsen : Arbeiterbewegung (Anm. 10), S. 64.
  • [15]
    Für Kautsky ist das Denken in nationalstaatlichen Kategorien ein Produkt der Entwicklung des kapitalistischen Produktionsmodus, während die Nationalität vor allem auf der Sprache beruht. Auch für ihn ist der Nationalstaat zwar historisch notwendig, stellt aber nur eine Übergangsform dar. Auf Dauer werde man der Entstehung einer vereinigten Weltkultur beiwohnen. Karl Kautsky : « Die moderne Nationalität », in Neue Zeit, V, 1887, S. 442ff.
  • [16]
    Sie schlug sich direkt auf die Partei und ihre Struktur nieder. Der Parteitag in Wimberg beschloss 1897 föderalistische Strukturen und gliederte die Gesamtpartei in nationale Gruppen, um die separatistischen Tendenzen aufzufangen. Zwei Jahre später folgte in Brünn/B?no die theoretisch-programmatische Auseinandersetzung mit der Nationalitätenfrage vor dem Hintergrund der Konflikte zwischen deutsch-österreichischen und tschechischen Vertretern. Das Brünner Programm forderte für Österreich einen demokratischen Nationalitätenbundesstaat mit national abgegrenzten Selbstverwaltungskörpern und Nationalitätenkammern. Es reduziert das Nationalitätenproblem somit auf ein politisch-kulturelles Überbauphänomen, das es gleichzeitig von den zugrunde liegenden sozial-ökonomischen Phänomenen trennt. (Vgl. den Überblick von Christoph Butterwege : Austromarxismus und Staat, Marburg : Arbeit und Gesellschaft, 1991, S. 60ff). Die Forderung nach einer Umformung des Reiches in einen Nationalitätenbundesstaat machte die SPD zu einer staatserhaltenden Partei, die eine « Lösung der österreichischen Nationalitätenfrage durch die Isolierung der nationalen Angelegenheiten von den politischen Machtgegensätzen » versucht (Hans Mommsen : Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, Wien : Europa-Verlag, 1963, Bd. I, S. 331). Das konnte nicht funktionieren und so gründeten 1911 die tschechischen Sozialdemokaten eine eigene Partei, womit die multinationale Organisation der Partei gescheitert war (Christoph Butterwege [Anm. 16], S. 81). Erst 1918 forderte die SPD das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Einheit und Freiheit insbesondere der deutschen Nation. Vgl. « Ein Nationalitätenprogramm der “Linken” », zuerst in Der Kampf, Band 11, Wien 1918, jetzt in Otto Bauer : Werke, Band VIII, Wien : Europa-Verlag, 1980, S. 947ff.
  • [17]
    Es ging ihm auch darum, der internationalen Politik der SPD eine nationale Basis zu verleihen und damit zugleich den bürgerlichen Nationalismus zu bekämpfen. Vgl. Bauers Brief an Kautsky vom 15. Juni 1907 (Nachlass Kautsky, DII, 476), zitiert nach Hans Mommsen : Arbeiterbewegung und nationale Frage (Anm. 10), S. 203.
  • [18]
    Die Debatten sind auszugsweise dokumentiert in Georges Haupt, Michael Löwy, Claudie Weill (dir.) : Les Marxistes et la question nationale 1848-1914, Paris : L’Harmattan, 1974 und Iring Fetscher (Hrsg.) : Der Marxismus, München : Piper, 1983, S. 617ff.
  • [19]
    Karl Renner : Staat und Nation, Wien 1899. Renner ist gegen die atomistisch-zentralistische Tradition und für eine kollektiv-föderalistische Lösung, in der sich die Nation zwischen Staat und Individuum stellt. Renner, wie nach ihm Bauer, versteht die Nation nicht als eine durch den Sozialismus zu überwindende Realität, denn der Staat soll zwischen den verschiedenen Nationalkulturen vermitteln, deren Einheit sich in Sitten, Sprache und Literatur verkörpert. Die Nationen müssen ihrerseits ihre kulturellen Angelegenheiten autonom verwalten, während der Staat für die wirtschaftlichen Fragen kompetent ist. Allein im kulturellen Bereich ist die Nation also vom Staat unabhängig, wobei die Frage der Territorien sekundär ist und durch das Personalitätsprinzip sowie Mehrheits- und Minderheitsrechte gelöst wird. Vgl. Stéphane Pierre-Caps : « Karl Renner et l’État multi-national », in : Droit et Société 27 (1999).
  • [20]
    Michael Löwy : Internationalismus und Nationalismus, Köln : ISP, 1999, S. 90. Gerade das ist zu problematisieren, ganz zu schweigen von einer möglichen Relevanz von Bauers Positionen für die aktuelle politische Theorie. Sie sind heute nur noch im Rahmen des Kommunitarismus zu verteidigen, wenn man etwa die schwarze Bevölkerung Amerikas als Nation auffasst, wie Löwy es wiederholt tut.
  • [21]
    Otto Bauer : Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907, heute in : Otto Bauer : Werke, Band I, Wien : Europa-Verlag, 1975, S. 401. Das Werk wird fortan mit dem Sigel N und der Seitenzahl direkt im Text zitiert.
  • [22]
    Gemeinschaft bedeutet für Bauer Autonomie im Gegensatz zur Heteronomie der Gesellschaft und freiwillige Verinnerlichung der Erfahrungen im Gegensatz zu von Außen kommenden Normen. Aus diesem Grunde glaubt er sich von Tönnies distanzieren zu müssen (N, 186), obwohl doch auch bei ihm die Idee einer historischen Organizität vorherrscht und die Einheit der Kultur auf gemeinsam gemachten bzw. weitergegebenen Erfahrungen beruht. Vgl. Michael Löwy : Internationalismus und Nationalismus (Anm. 20), S. 91ff.
  • [23]
    Zum politischen Darwinismus vgl. Stefan Breuer : Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen, Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2001.
  • [24]
    Bauer bezieht sich immer nur auf die Kultur der Eliten, was ihn in weitere Widersprüche verwickelt. Einerseits reduziert sich z.B. die deutsche Nation des Mittelalters bei ihm zwangsläufig auf die Schicht der Ritter und Priester (N, 66ff), während andererseits die Weitergabe der Nationalcharaktere durch die Kulturgüter für die Massen entfällt, wodurch allein die genetische Übertragung von Reaktionen auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen den Nationalcharakter der arbeitenden Massen erklären kann.
  • [25]
    Karl Marx : Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd.42, Berlin : Dietz, 1983, S. 31.
  • [26]
    Hans Mommsen : Arbeiterbewegung (Anm. 10), S. 328.
  • [27]
    Von hier aus ist es nur ein Schritt zur Hierarchisierung der Kulturen, den Bauer in der vorliegenden Studie nicht explizit unternimmt, wohl aber in den zeitgleich veröffentlichten Propagandatexten, in denen es heißt, die Deutschen seien « die zahlreichste, kulturell höchstentwickelte und reichste Nation in Österreich ». Otto Bauer : « Deutschtum und Sozialdemokratie », in : Lichtstrahlen 13 (1907), heute in Otto Bauer : Werke (Anm. 21), Bd. I, S.44.
  • [28]
    Joseph Strasser : Der Arbeiter und die Nation, Reichenberg 1912, Nachdruck Wien : Junius, 1982.
  • [29]
    Otto Bauer : « Der Arbeiter und die Nation », zuerst in Der Kampf, Band 5, Wien 1912, jetzt in Otto Bauer : Werke (Anm. 21), Band VIII, S. 647.
  • [30]
    Ibid., S. 650.
  • [31]
    Ibid., S. 652.
  • [32]
    Etwa wenn er « die Pflichten » der SPD gegenüber dem « Vaterland » erwähnt, oder wenn er betont, der Kampf gegen den Militarismus sei zwar mit dem Internationalismus der Arbeiterklasse verbunden, werde aber die « Heimat » niemals « gefährden » (Karl Kautsky : Nationalität und Internationalität, Stuttgart 1908, S. 2 u. S.23).
  • [33]
    Ibid., S. 2. Das hindert ihn jedoch nicht daran, die aus der Propaganda der Arbeiterbewegung hinreichend bekannten Standartphrasen zu wiederholen : Die aktuellen internationalen Konflikte können nicht zu einem Krieg führen, denn dem würde sich der proletarische Patriotismus erfolgreich widersetzen. Die SPD sei zwar nicht stark genug, um einen Rüstungsstop zu erzwingen, aber die Angst vor einer möglichen Revolution werde den Krieg verhindern (Karl Kautsky : Patriotismus und Sozialdemokratie, Leipzig 1907, S. 24). Die noch existierenden nationalen Probleme können erst nach dem Sieg des Proletariats gelöst werden. In der unmittelbaren Gegenwart brauche sich das Proletariat aber nicht darum zu kümmern. Der Sieg der SPD wird das Ende der Ausbeutung bedeuten und damit auch das Ende der Konflikte und der Kriege. Anders gesagt argumentiert Kautsky immer noch auf der Basis des Manifests und propagiert zugleich die absolute Passivität : der Sieg der SPD wird für ihn ja nicht durch die Revolution herbeigeführt, sondern resultiert aus der Evolution der Geschichte. Das bedeutet aber auch, dass die Geschichte nicht nur auf das Ende der Konflikte, sondern auch auf das Ende des politischen Denkens und Handelns hinausläuft.
  • [34]
    Karl Kautsky : « Die moderne Nationalität », in : Neue Zeit, V, 1887, S. 442ff.
  • [35]
    Karl Kautsky : Nationalität (Anm. 32), S. 6.
  • [36]
    Karl Kautsky : Nationalität (Anm. 32), S. 3.
  • [37]
    Karl Kautsky : Nationalität (Anm. 32), S. 11. Will man überhaupt von kulturellen Gemeinschaften sprechen, so Kautsky, so ist an die Weltreligionen zu denken, die jeweils verschiedene Sprachen und Nationen umfassen und daher zu einer internationalen Kultur führen.
  • [38]
    Auch Kautsky spricht hier bezeichnenderweise vom « Existenzkampf ». Karl Kautsky : Nationalität (Anm. 32), S. 4.
  • [39]
    Otto Bauer : « Bemerkungen zur Nationalitätenfrage », zuerst in : Die Neue Zeit, Erster Band 1908, Stuttgart 1908, heute in Otto Bauer : Werke (Anm. 21), Band VII, S. 939.
  • [40]
    Ibid.
  • [41]
    Bauer wird gerade durch sein Konzept des historischen Nationalcharakters auf das Problem der Ungleichzeitigkeit aufmerksam. Die zu erarbeitende « soziale Formenlehre » würde zeigen, dass die jeweils aktuellen Ideologien « nur aus der Verbindung der durch die neuen Produktionsverhältnisse geformten Bewusstseinsinhalte mit den in den Produktionsverhältnissen vergangener Zeiten wurzelnden überlieferten Kulturelementen erklärt werden können ; « dies wäre die allgemeine theoretische Grundlage unserer Lehre von der nationalen Apperzeption, die selbst wieder die Grundlage unserer Theorie von der Funktion des proletarischen Klassenkampfes im Werdegang der Nationen ist ». Ibid., S. 947.
  • [42]
    Erst in dem Vorwort zur zweiten Auflage von 1924 (in Otto Bauer : Werke [Anm. 21], Band I, S. 51-68) wird Bauer zu einer teilweisen, allerdings widersprüchlichen Rücknahme seiner Positionen gelangen. In seinen Augen hat sein Werk weiterhin Geltung, es stellt einen ersten Versuch dar, « die modernen Nationen mit den Mitteln marxistischer Geschichtsauffassung als aus Schicksalsgemeinschaften erwachsene Charaktergemeinschaften zu begreifen » (S. 53). Die Kritik erklärt er durch das Misstrauen der Marxisten gegenüber dem Phänomen des Nationalcharakters, an dem er weiterhin festhält und den er am Beispiel der unterschiedlichen Vorgehensweise englischer und französischer Physiker und Naturforscher illustriert, die « ganz unterschiedliche seelische Bedürfnisse » befriedigen müssen und « ganz verschiedene Fähigkeiten » besitzen (S. 54). Anders steht es um seine Definition der Nation, die er nun lediglich als eine heuristische Vorgabe verstanden wissen will : « Sie ist nichts anderes als ein methodologisches Postulat. Sie will der Wissenschaft ihre Aufgabe stellen, das Phänomen der Nation dadurch zu begreifen, dass sie all das, was die Eigenart, die Besonderheit der einzelnen Nationen ausmacht […] aus der Besonderheit ihrer Geschichte erklärt, die Nationalität des einzelnen Individuums also als das Historische an ihm, das Historische in ihm aufzeigt » (S. 60). Diese These ist jedoch angesichts von Bauers nationalem Pathos in den populärwissenschaftlichen Texten wenig plausibel. Für eine gelungene Verbindung von Neukantianismus und Marxismus gerade in Bezug auf den Begriff der Nation vgl. Max Adler : Prinzip oder Romantik !, Nürnberg 1915, S. 37ff.
  • [43]
    Karl Kautsky : Nationalität (Anm. 32), S. 16. Auf der nächsten Seite geht Kautsky sogar so weit, von einer Weltkultur mit einer Weltsprache, also einer Nationalität zu träumen. In die gleiche Richtung geht die Kritik von Anton Pannekoek, der 1911 moniert, der Nationalitätenkonflikt sei Ausdruck der Konkurrenzsituation in der bürgerlichen Wirtschaft, während die Schicksals- und Charaktergemeinschaft auf Grund des Klassenantagonismus immer mehr verschwinde. Anton Pannekoek : Klassenkampf und Nation, Reichenberg 1912.
  • [44]
    Otto Bauer : Bemerkungen (Anm. 39), S. 945. Dies allerdings am unvermeidlichen Beispiel von Marx und mit dem in gebührlichem Abstand formulierten Zusatz, der kulturelle Mischling gehöre keiner Nation wirklich an.
  • [45]
    Otto Bauer : Bemerkungen (Anm. 39), S. 946.
  • [46]
    Wie wenig sich Bauer bewusst ist, dass er durch seinen angeblich historischen Nationalcharakter in eine dialektische Zwickmühle gerät, die ihn doch wieder in die Nähe eines substantiellen Verständnisses führt, zeigt die Nachbemerkung : gerade die historische Einbindung erlaube es, die « Mystik der Volkseele » zu entlarven. Otto Bauer : Bemerkungen (Anm. 39), S. 946.
  • [47]
    Otto Bauer : Bemerkungen (Anm. 39), S. 947.
  • [48]
    Karl Kautsky : Nationalität (Anm. 32), S. 35.
  • [49]
    Karl Kautsky : Nationalität (Anm. 32), S. 27.
  • [50]
    Karl Kautsky : Nationalität (Anm. 32), S. 36.
  • [51]
    Otto Bauer : « Unser Nationalitätenprogramm und unsere Taktik », zuerst in Der Kampf, Band 1, Wien 1908, jetzt in Otto Bauer : Werke (Anm. 21), Band VIII, S.76.
  • [52]
    Otto Bauer : « Massenpsyche und Sprachenrecht », zuerst in Der Kampf, Band 1, Wien 1908, jetzt in Otto Bauer : Werke (Anm. 21), Band VIII, S. 80. Inwiefern Bauer hier von Le Bon beeinflusst ist, kann man auf Grund der nur kurzen Darstellungen nicht festmachen.
  • [53]
    Ibid. S. 81.
  • [54]
    Otto Bauer : « Völkerverbrüderung », zuerst in der Maifestschrift der Arbeiter-Zeitung vom 1. Mai 1908, jetzt in Otto Bauer : Werke (Anm. 21), Band VII, S. 582-584.
  • [55]
    Otto Bauer : « Wandlungen im Wesen der Nation », zuerst in der Maifestschrift der Arbeiter-Zeitung vom 1. Mai 1907, jetzt in Otto Bauer : Werke (Anm. 21), Band VII, S. 580.
  • [56]
    Otto Bauer : « Nationale Assimilation », zuerst in der Arbeiter-Zeitung vom 12. September 1909, jetzt in Otto Bauer : Werke (Anm. 21), Band VII, S. 248.
  • [57]
    Otto Bauer : Bemerkungen (Anm. 39), S. 952.
  • [58]
    Otto Bauer : « Deutschtum und Sozialdemokratie » (Anm. 27), S. 25.
  • [59]
    Otto Bauer : « Deutschtum und Sozialdemokratie » (Anm. 27), S. 26.
  • [60]
    Otto Bauer : « Deutschtum und Sozialdemokratie » (Anm. 27), S. 27.
  • [61]
    Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch ein höchst gefährlicher Ausrutscher Bauers : Zur Zeit von Tacitus existierte noch eine einheitliche germanische Kultur, denn es gab noch keine Klassengegensätze. Alle Schichten der Bevölkerung hatten an der (politischen) Kultur teil. Mit der Sesshaftigkeit und dem Privateigentum verfiel jedoch diese « alte germanische Freiheit ». Die verschiedenen deutschen Stämme entstanden, während die deutsche Kultur die der Grundherren war. Eine tatsächliche nationale Einheit wird erst durch das Ende der Klassengegensätze hergestellt und dann werde « wieder, wie in alten Zeiten », die nationale Kultur der Besitz aller sein. Damit sind wir aber, ob wir es wollen oder nicht, wieder bei den Germanen. Vgl. Otto Bauer : « Wandlungen im Wesen der Nation » (Anm. 55), S. 581.
  • [62]
    « Wer wahrhaft für das Wachstum der deutschen Volkszahl, für die Mehrung deutscher Macht kämpfen will, der muss sich der großen Armee einreihen, die den Klassenkampf des arbeitenden, besitzlosen Volkes gegen die kapitalistische Ausbeutung führt ». Otto Bauer : « Deutschtum und Sozialdemokratie » (Anm. 27), S. 32.
  • [63]
    « Erst der Sozialismus verwirklicht das nationale Ideal, die volle Freiheit und Einheit der Nation. […] Wir wollen, dass das deutsche Volk groß und mächtig sei, dass seine Volkszahl wachse. » Otto Bauer : « Deutschtum und Sozialdemokratie » (Anm. 27), S. 46.
  • [64]
    Otto Bauer : « Deutschtum und Sozialdemokratie » (Anm. 27), S. 29.
  • [65]
    Otto Bauer : « Deutschtum und Sozialdemokratie » (Anm. 27), S. 30.
  • [66]
    Otto Bauer : « Deutschtum und Sozialdemokratie » (Anm. 27), S. 30.
  • [67]
    Otto Bauer : « Deutschtum und Sozialdemokratie » (Anm. 27), S. 27.
  • [68]
    Otto Bauer : Die internationale Solidarität des Proletariats. Vortrag im Oktober 1911, jetzt in Otto Bauer : Werke (Anm. 21), Band VI, S. 222.
  • [69]
    Otto Bauer : « Völkerverbrüderung » (Anm. 54), S. 586.
  • [70]
    Otto Bauer : Nationaler Kampf oder Klassenkampf ?, in Otto Bauer : Werke (Anm. 21), Band I, S. 821.
  • [71]
    Karl Kautsky : Die Internationalität und der Krieg, Berlin 1915, S. 26.
  • [72]
    Ibid., S. 39.
  • [73]
    Ibid., S. 40.
  • [74]
    Ibid., S. 4. In Rosa Luxemburgs Augen war dieses « Dilemma » eine « bürgerlich-nationalistische Fiktion ». Rosa Luxemburg : Die Krise der Sozialdemokratie (1916), Gesammelte Werke, Berlin : Dietz, 2000, Bd. IV, S. 51ff.
  • [75]
    Karl Kautsky : Die Internationalität (Anm. 71), S. 5.
  • [76]
    Gerade an diesem Punkt wird die Kritik von Mehring, Liebknecht und Luxemburg ansetzen ; vgl. Franz Mehring : « Vom Wesen des Krieges » (Herbst 1914), in Krieg und Politik, Bd. I, Berlin 1959, S. 145ff. ; Karl Liebknecht : « Prinzip für die sozialdemokratische Taktik im Kriege », (1914), in : Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII, Berlin : Dietz, 1966, S. 141ff ; Rosa Luxemburg : Die Krise der Sozialdemokratie (Anm. 74), S. 51ff.
  • [77]
    Für Kautsky steht auch Belgien seit seiner Kriegserklärung im feindlichen Lager (Karl Kautsky : Die Internationalität und der Krieg (Anm. 71), S. 36). Inwiefern er sich auch hier von der Regierungspropaganda hat manipulieren lassen, sei dahingestellt. Auf jeden Fall wird seine kritische Aufarbeitung der Propaganda nach dem Krieg u.a. an diesem Punkt ansetzen. Vgl. Karl Kautsky : Wie der Weltkrieg entstand, Berlin 1919, S. 155ff.
  • [78]
    Mommsen : Arbeiterbewegung… (Anm. 10), S. 213.
English

The study analyses The question of nationalities and the social democracy published by Otto Bauer in 1907 and assumed to correct the deficit of Marxist theory concerning the political and historical definition of nation. The Darwinist matrix, also apparent in Bauer’s political articles, prevents a uniterm statement and aligns Bauer with German nationalist propaganda.

Français

L’étude porte sur l’ouvrage La question des nationalités et la social-démocratie publié par Otto Bauer en 1907 et censé combler les lacunes de la pensée marxiste en ce qui concerne la définition de la nation en tant que catégorie historique et politique. La matrice darwiniste, manifeste également dans de nombreux articles politiques de l’auteur, empêche cependant une prise de position univoque et rapproche Otto Bauer des courants nationalistes allemands.

Wolfgang Fink [*]
Cette publication est la plus récente de l'auteur sur Cairn.info.
Mis en ligne sur Cairn.info le 04/02/2015
https://doi.org/10.3917/eger.254.0329
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